Vor einigen Jahren trafen wir im Gemeinschaftsgarten unserer Wohnanlage Mutter Natur. Sie saß dort am Spielplatz auf der Schaukel und zwirbelte die Schaukelketten ein bis sie kurz vorm Bersten waren. Dann hob sie die Füße, die merkwürdig knorrig aus ihrem langen Blätterkleid hingen, und wirbelte mit einem Affentempo im Kreis herum.
Dabei jauchzte sie aus vollem Halse: „JIPIIIEEEE!“. Ich weiß, das klingt so überhaupt nicht nach Mutter Natur, sie muss es aber trotzdem gewesen sein. Auf ihrem Haupt wucherte massig Efeu, kleine Eichhörnchen bauten Nester darin. Arme und Beine waren seltsam wurzelartig und die Augen strahlend blau wie Himmel, See und Meer zusammen. An den knorrigen Füßen trug sie Birkenstock-Sandalen, die sie während des Kreiselns auf der Schaukel weit von sich schleuderte. Nachdem sie ausgewirbelt hatte, wankte sie in Schlangenlinien vor die Terrasse unseres Nachbarns und übergab sich gurgelnd und gluckernd wie ein Wildbach über die leeren Blumentröge und die karge Wiese. Ein paar Spritzer erwischten auch Herrn Grünbein, unseren Nachbarn, der gerade ein Nickerchen auf der Terrasse hielt.
Herr Grünbein mit dem grünen Daumen
Seit diesem Tag hat Herr Grünbein ungemeinen Ehrgeiz und Enthusiasmus in der Gestaltung der Grünfläche vor seiner Wohnung entwickelt. Jeden Tag rupft er Unkraut, sät Samen und gießt seine Pflanzen. Blumen, Kräuter und Gemüse gedeihen und sprießen bei ihm wie im Garten Eden. Die Grünfläche vor unserer Wohnung blieb hingegen karg und unansehnlich. Sämtliche Versuche meiner Frau verschiedene Pflanzen zu kultivieren, scheiterten kläglich. Die Pflanzen fristeten ein trauriges Dasein, bis sie es schließlich aufgaben und starben. Die Härtesten, die nicht unmittelbar von selbst starben, wurden von den Schnecken gefressen oder von der Hausverwaltung einfach niedergemäht.
Heute tanzen Herr Grünbeins und unser Garten gemeinsam Tango
Hin und wieder kreuzten sich die mitleidigen Blicke von Herrn Grünbein mit den neidvollen meiner Frau. Heuer im Frühjahr, während der ersten Gartenarbeiten ereignete sich dann schließlich etwas Seltsames. Die Frau suchte in ihrer Verzweiflung das Gespräch mit Nachbar Grünbein: Wie könne man die Pflanzen gegen die Schnecken schützen, welche Pflanzen sind eigentlich überhaupt geeignet und was zum Teufel soll ich denn bitteschön anders machen?
Mit etwas Sternenglitzer klappt`s auch mit dem Garten
Herr Grünbein machte etwas, was er in den Jahren zuvor noch nie gemacht hatte – er setzte einen Fuß auf den kargen Rasen vor unserer Wohnung und besah sich die Tristesse in unseren Blumentrögen und Beeten. Töchterchen L. zupfte mich am Ärmel und deutete mit offenem Mund auf Herrn Grünbein. „Was ist denn los?“ fragte ich sie. „Papa!! Siehst du das nicht? Der ganze goldene Sternenglitzer!!“. Ich konnte natürlich nichts sehen, aber ich spürte wie sich die Haare in meinem Nacken aufstellten. Die Luft knisterte vor Energie.
Mit den Tipps von Nachbar Grünbein machte sich die Frau dann an die Arbeit. Samen, Pflanzen und Erde wurden gekauft und herangekarrt. Die Frau kam, sah und säte und die Pflanzen gedeihten und vermehrten sich wie durch Zauberhand. Heute tanzen Herr Grünbeins und unser Garten gemeinsam Tango. Gegenseitig befruchten sie sich mit Samen und Leben. Was dort wächst, wächst auch bei uns und vice versa.
Mutter Natur als Stammgast
Seitdem wir nun einen Dschungel vor der Tür haben, kommt das verhutzelte, alte Weibchen mit den Efeu-Haaren öfter zu Besuch. Gestern erst sah ich sie auf der Schaukel sitzen. Mit einem glockenhellen Lachen blickte sie zu unserem Garten herüber. Just in dem Moment, in dem ich sie ansprechen wollte, löste sie sich – POFF – mit einem kleinen Glitzerwölkchen in Luft auf.