Priester predigen, Fische schwimmen, Vögel fliegen, Tochter Lena backt. Das ist das, was sie tut, was ihr Wesen ausmacht. Sobald sie loslegt, macht sie sich unsere Küche untertan.
Das Gebiet zwischen Kühlschrank und Backofen wird zu ihrem Reich. Es ist ein Reich, in dem Angst und Chaos regieren. Wie im Irak. Oder Afghanistan. Gleich Schutt liegen Butterbrocken auf Herd und Fliesenboden. Weißer Staub hängt wie nach einer Detonation in der Luft. Eine Mehlschicht bedeckt die Arbeitsfläche, kleine Häufchen reichen bis ins Esszimmer. An den Schubladen, auf dem Wasserhahn und am Backofen kleben, wie Blut, Spritzer geschmolzener Schokolade.
Sie ist wie ein Gefäß, gefüllt mit göttlicher Backenergie, der Göttin des Krapfens und des Butterzopfs.
Wenn die Mama oder ich ein Mindestmaß an Ordnung einfordern, entflammen ihre Pupillen feuerrot und sie brüllt mit rollendem „R“: „Rrraus! Geht weg! Lasst mich in Rrruhe! Ich muss backen!“. Das rollende „R“ duldet keine Widerworte. Es ist als spräche ein verrückter, aber göttlicher Geist durch sie. Sie scheint wie ein Gefäß, gefüllt mit kreativer, himmlischer Backenergie, der Göttin des Krapfens, des Butterzopfs und der Schwarzwälder Kirschtorte.
In einem atemberaubenden Tempo wirbelt sie zwischen Mixer, Waage und Backblech hin und her. Die Arme jonglieren mit Schüsseln, Nudelholz, Gummispatel, Mehl und Germ, so schnell, dass ihre Bewegungen vor dem menschlichen Auge verschwimmen und ihr scheinbar zusätzliche Arme wachsen. Sie wird zum backenden Kraken, sie rührt, mixt, formt und knetet sich durch unsere Küche und murmelt mantraartig Rezepte vor sich hin: „Chrrr… 50 Deka Butter schmelzen… chr …Mandelsplitter karamellisieren… chrrr …Teiglinge bestauben… chrrrr …“. Zwischendurch atmet sie schwer, röchelt beinahe. Ich glaube irgendwo, tief in diesem backbesessenen Körper steckt noch das echte Kind und versucht sich die Kontrolle über sein Großhirn zu erkämpfen. Doch die Lage ist aussichtslos. Die Backgöttin bleibt am Steuer, unbeirrbar, bis die Schöpfung duftend aus der Röhre steigt.
In kurzen Momenten scheint ihr die Situation zu entgleiten, dann erhebt sie langsam anschwellend ihre Stimme: „aahhAAHH … falscher Körnungsgrad … chrrr … wo ist der Kardamom? Verdammt! WO IST DER KARDAMOMMM? UND WARUMM – KEINN – RUM – HIERRR??“. In diesen Phasen muss das Elternteil kühlen Kopf bewahren, darf auf keinen Fall interagieren. Nur wenn es ganz schlimm wird, muss behutsam eingegriffen werden. Vater oder Mutter flüstern dem Backdämonen in diesem Fall schnellstens Phrasen der Beschwichtigung ins Ohr. Bewährt hat sich folgende Formel: „Feiiin macht sie das. Braaav ist sie. Backen ist guuut.“. Der Backdämon beruhigt sich daraufhin und rotiert weiter.
Backwaren als Kunstwerke und Absturz ins Nichts
In ein paar Jahren wird Lena ihre gebackenen Kreationen um irrwitzige Geldsummen verkaufen. Backmischungen als Weltraumnahrung der Astronauten auf dem Weg zum Mars entwickeln. Die Hochzeitstorten für die Brad Pitts und Angelina Jolies von morgen kreieren.
Ihre schönsten Werke werden Bäckerinnen und Bäcker aus der ganzen Welt in der Wiener Albertina bestaunen, ihre berühmte Neuinterpretation der Sachertorte wird im Pariser Louvre gleich neben der Mona Lisa ausgestellt. Ihre Kreationen werden Kunstwerke sein. Unheimlich filigran und gleichzeitig enorm ausdrucksstark. Krapfen, Linzer Augen und Topfengolatschen aus ihrem Ofen werden unerschwinglich. Niemand wird mehr ihre Sachen essen wollen, weil zu wertvoll. Reiche Menschen ersteigern daraufhin bei Sothebys ihre Buchteln um Millionen und sperren sie in ihre Wandsafes, vor denen vergleichsweise schäbige Monets und van Goghs hängen. Lenas sensibler Geist wird das nicht verkraften, am Boden zerstört hängt sie daraufhin den Backspatel an den Nagel und versinkt im Drogensumpf. Um sich über Wasser zu halten, muss sie bis ans Ende ihrer Tage für ein paar Euro auf den Parkbänken im Klagenfurter Lendhafen Backmischungen für verzweifelte Hausfrauen anrühren.